Seitdem Kreisky tot ist , bin ich gezählte zwanzig Mal öffentlich in Tränen ausgebrochen. Selbstverständlich nur beinahe. Man hat ja einen Ruf zu verlieren. Zweimal wurde Deutschland Weltmeister, die anderen achtzehn Mal stand ich irgendwo am Westbahnhof. Heute bin ich nach Wochen wieder da. Wie ein Veteran, wie einer der älteren Herren, die dann nochmals aus Miami in die Normandie fliegen. Nur meine alten Mitstreiter leben noch. Bloß die sind jetzt nur woanders. Alles ist so hell und aufgeräumt, vor Wochen waren so viele Menschen da, dass es immer irgendwie dunkel wirkte. Oder waren das nur all die dunklen Erlebnisse von tödlichen Überfahrten, herzlosen Schleppern, grenzfaschistischen Ungarn und dieses klebrige Gefühl der Angst, das nicht von einem lassen will, auch wenn die Gefahr vorbei ist.
Im Seitentrakt, rechts neben der „Nordsee“ vor dem Eisgeschäft „Happiness Station“ lagert eine afghanische Familie. Ich kenne sie nicht. Sie kennen mich nicht, aber es ist meine Normalität und deswegen freue ich mich, obwohl es nicht wirklich angebracht erscheint. Zwei Frauen, vielleicht Schwestern, ein Mann, ein Großvater und zwei kleine Buben. Es ist warm am Westbahnhof, trotzdem scheinen alle alles anzuhaben, was sie haben. Der Rest ist in riesigen, blauen IKEA-Taschen verstaut. Die beiden Buben haben das Eisgeschäft entdeckt. Die „Happiness Station“ mit all ihren Softeis-Varianten und Früchten zum Selbermischen. Der Vater telefoniert, die Frauen richten sich ihre Kopftücher und kramen in den riesigen, blauen Taschen. Ich habe zwanzig Cent in der Tasche, hasse mich dafür und gehe weiter. Gleich beim Ausgang Richtung Felberstraße finde ich den „Kids Corner“. Früher war der in der großen Halle. Ganz viele fantastische Menschen haben da fantastische Hilfe geleistet. Jetzt ist alles ein wenig kleiner. Die Glaswände sind teilweise mit Plakaten verklebt. Aufrufe und was alles gesucht wird. Die Tür steht offen. Ich sehe viele Kinder mit großen Augen. Ich sehe junge Kopftuchmuttis. Glücklich. Ich sehe Spielzeug, weiche Teppiche. Eine kleine Oase des Kinderglücks. Wunderbar. Vor der Tür zum „Kids Corner“ steht ein freundlicher Türwächter mit einer rotweißen Warnweste und einem Tablett Tee in weißen Plastikbechern. Es gibt einen Stehtisch und um den herum stehen ein paar Männer. Die Glücklichen warten auf ihre Kinder, die weniger Glücklichen wissen ihre Kinder tausende Kilometer weit weg. Es wird Farsi gesprochen. Ich stehe einfach da und schaue. Zwei junge Österreicher kommen in den Bahnhof. Der eine ist der Redner, der andere ist der mit dem Hass im Blick. Zwei dumpfe, identitäre Gesichter: „Schau´s dir an die Gfrasta. Schau´s dir an! Das werden jeden Tag mehr von denen!“ Sie schauen durch uns durch. Durch die teetrinkenden Afghanen und durch mich schauen sie auch durch. Als wäre ich nicht von ihrer Rasse. Kontaminiert vom umgevolkten Dreck quasi. Sie schauen durch uns durch, aber sie schauen nicht in meinen Kopf hinein. Wüssten sie, wie verrückt ich eigentlich bin, würden sie laufen um was auch immer. In diesem klirrenden Moment biegt ein junger Mann um die Ecke. Es ist fast Winter, aber er trägt kurze Hosen, goldene Flip Flops, die Haare sind blondiert, das T-Shirt fast bauchfrei, am Rücken ein kleiner bunter Rucksack. Er geht so gerade und federnd, wie es kein heterosexueller Mann zusammenbrächte und hinge sein Leben davon ab. Die Nazifressen grinsen, die teetrinkenden Afghanen grinsen und ich grinse auch, während dieser verwirrte, blonde Mann den Bahnhof Richtung Felberstraße verlässt. Ein kurzer, gemeinsamer Moment im Machokontinent. Schwule sind komisch. Das scheint ubiquitär zu funktionieren. Peinlich, aber nicht zu ändern.
Nach ein paar Minuten bin ich dann gegangen. Zurück in Richtung Bahnhofshalle. Die beiden Frauen schliefen nun Schulter an Schulter. Auch der Großvater schien eingenickt zu sein. Der Vater hatte die Gelegenheit genutzt und das getan, was Väter so gerne tun. Nämlich, seinen Kindern den größten Wunsch zu erfüllen und sei er noch so flüchtig. Die beiden Buben hatten ihr ersehntes Eis. Ein kleines Eis. Aber groß genug und fantastisch bunt. Über dem Eisgeschäft stand: „So schmeckt Glück“ und es war in dem Moment so wunderbar wahr und passend. So wunderbar wahr und passend, dass ich schnell weiter gehen musste. Achtzehn Mal beinahe in Tränen ausbrechen am Westbahnhof muss reichen, sonst packe ich auch noch die goldenen Flip Flops aus.