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Meine arabische Karriere – Die Therapie – Meine kleine Heldin
18. Oktober 2015

Mir steht die ganze Welt offen. Das Kurierhaus erschließt mir neue Perspektiven. Ich bin fast zwei Meter groß, bewege mich ungeschickt, meine Brille ist mir etwas zu weit und rutscht, außerdem fällt mir ständig irgendetwas auf den Boden. Die Kinder lachen, wenn sie mich nur sehen. Manche scheppern richtig und halten sich die Hände vor den Mund. Die armen Eltern fürchten wohl, ich würde mich kränken und ziehen ihre prustenden Kinder weg. Ganz im Gegenteil. Irgendwann wird es ein friedliches Syrien und einen friedlichen Irak geben, dann starte ich dort durch im Kinderprogramm und werde reich und Fernsehstar. Man braucht einen Plan B im Leben und ich brauche dringend arabische Autogramm-Karten.

Noch etwas habe ich gelernt in den letzten Monaten und bin dankbar dafür. Ich bin anfassbar geworden und fühle mich wohl dabei. Das war nicht immer so. Meine Freunde haben mir nicht zufällig Spitznamen wie „Rainman“, „Monk“, oder „Sheldon“ gegeben. Je nachdem, welcher Vollneurotiker gerade modern war. Vier abgebrochene Therapien haben einen kleinen Mercedes gekostet und nichts gebracht. Seit dem Westbahnhof werde ich angefasst. Hunderte Male von Menschen, die ich nicht kenne und ich fahre keinesfalls jedes Mal nach Hause und dusche extraheiß. Wenn man einer Frau mit Kinderwagen die Tür aufhält, klopft einem die ganze Familie auf die Schulter und drückt einem freundlich den Unterarm. Ich mag das inzwischen und tue das manchmal auch. Vielleicht ein wenig ungelenk, weil so ungewohnt für mich, vielleicht ein wenig zu fest, aber ich arbeite daran. Eine besonders attraktive Helferin wollte mir kürzlich zur Begrüßung auf die Wange küssen. So weit bin ich noch nicht. Aber für den Fall, werde ich mich als erstes bei ihr melden.

Aber kommen wir zur heutigen, kleinen Heldin meiner Notizen. Das Mädchen kommt aus Syrien, ist vielleicht zehn Jahre alt und ist schon etwas länger im Haus. Sie trägt ein ornamentales Ed Hardy-Shirt. Die Haare zu einem Knötchen gebunden, ein rosa Haarband. Um den Hals irgendwas Goldenes. Die Turnschuhe ebenfalls schwarz und scheinbar viel zu groß. Ein ungewöhnliches Mädchen, sehr ernst und unfassbar hilfsbereit. Sie scheint sich ihre Arbeit selbst zu suchen. Niemand würde sie etwas bitten, oder müsste das tun. Heute sehe ich sie bei einem jungen Iraker mit einem viel zu alten Gesicht. Er hat Schmerzen, humpelt an Krücken und ist offensichtlich den ersten Abend da. Mehr als einmal muss er übersiedeln von Zimmer zu Zimmer. Er sieht schlecht aus, man ahnt, was er durchgemacht haben muss. Das kleine Mädchen kümmert sich um alles. Schleift den viel zu großen Rucksack von Zimmer zu Zimmer, spannt das Leintuch auf und deckt den jungen Mann am Ende noch zu. Ein wenig wartet sie noch vor dem Zimmer, dass niemand die Ruhe stört und dann geht sie weiter. Später nach 23.00 Uhr treffe ich sie wieder im Speisesaal. Alles ist blitzblank geputzt. Männer aller Nationen treffen sich am späten Abend und wischen den Boden, kümmern sich um alles und bereiten das Frühstück für den nächsten Morgen vor. Mir gegenüber sitzt das Mädchen mit dem Knötchen und dem rosa Haarband. Jetzt sehe ich auch, das goldene Ding um ihren Hals ist eine Goldmedaille, wie man sie bei Laufveranstaltungen bekommt. Wahrscheinlich irgendwie in die Kleidersammlung gerutscht. Auf der Vorderseite der Medaille steht: „And the winner is…“. Die Rückseite funkelt leer. Ihr Name sollte darauf stehen, nur den kenne ich nicht. Nehmen wir einstweilen diese kleine Geschichte als Gravur. Sie hat sich jede Ehrung verdient.

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