Man müsste diesen ganzen Unrat bei den Ohren packen und durch den Bahnhof schleifen. Man müsste all diese mir so fremden und ignoranten Menschen zwingen, ihre Augen zu öffnen, um dann spätestens doch an ihren Herzen zu scheitern. All die Müllbilder-Poster, die Video-Erklärer, die IS-Warner und sonstigen Idioten haben nichts verstanden, weil sie nichts verstehen wollen und es sich so in ihrer Dummheit gemütlich machen. Was da alles passiert ist todtraurig, trotz der Erleichterung irgendwie angekommen zu sein. Scheiss auf die Gänsehaut, wenn der Gabalier die „richtige“ Hymne singt. Geschichte und Geschichten finden statt. Live, in Farbe, in Wirklichkeit und hier am Westbahnhof.
Der heisere Mann mit dem grellroten Smartphone zum Beispiel. Der muss irgendwo wichtig gewesen sein. Vielleicht ein Bürgermeister, vielleicht auch nur ein Sprecher in einem der Flüchtlingslager. Jedenfalls fiel er mir das erste Mal am Rande der Bahnhofshalle auf. Das grellrote Handy hielt er so hoch er konnte und rief arabische Namen. Dann ging er zehn Meter weiter und wiederholte das. Viele Stunden später, bei einem der Nachtzüge aus Nickelsdorf, traf ich ihn wieder. Scheinbar immer noch unterwegs. Zerrissene Familien, verlorene Kinder, verängstigte Reisende und tatsächlich meldet sich manchmal jemand, dessen Namen gerufen wurde, oder der zumindest weiter wusste. Wie ich dann ganz spät nach Hause ging, stand der heisere Mann mit dem grellroten Smartphone dort, wo es den Gratis-Tee gab und rief unbeirrt Namen in die Nacht. Nur das grellrote Handy hoch halten konnte er nicht mehr. Dazu fehlte ihm die Kraft.
Die leise, traurige Frau. Wie seinerzeit, als die Russlandheimkehrer aus den Zügen stiegen, steht sie da. Sie hält ein Foto hoch. Eine Kopie eines Fotos. Aber sie hält es nur so halbherzig hoch, als ob sie lieber weiter in der Ungewissheit lebt, als eine Wahrheit zu erfahren. Sie trägt ein schwarzes Kleid. Der junge Mann auf dem Foto trägt graugelbe Shorts, einen Oberlippenbart, der so gar nicht zu dem jungen Gesicht passt. Quer über seinem türkisfarbenen Sweatshirt steht in poppiger Schrift: „HAPPY“. – Es ist alles sehr traurig.