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Bilderbuch und braune Augen – Die Kleiderkammer – Nur die Liebe zählt
14. Oktober 2015

Die Haare ganz kurz geschnitten, die Ohrstecker kreisrund und goldfarben. Das kleine Mädchen trägt einen rosa Kitty Kat-Pullover und in der Hand hält sie ein Bilderbuch. Ein großes Bilderbuch, fast so groß wie sie selber. Die braunen Augen schauen ein klein wenig in zwei verschiedene Richtungen, aber beide schauen irgendwie zu mir. Das Buch interessiert sie nicht mehr. Mich findet sie spannend, wie ich da sitze neben dem Raucherhof im KURIER-Haus und Notizen in meinen Block kritzle. Wenn ich schreibe, fasst sie ganz vorsichtig meinen Kugelschreiber an und schreibt mit. Wenn ich dann Pause mache, lässt sie los und schaut mich ganz stolz an, weil irgendwie haben wir ja die Worte zusammen geschrieben. Die Mutter sitzt mir gegenüber und scheint auf einen Bus zu warten, der sie wieder in eine andere Unterkunft bringen wird. Umgeben von großen blauen Plastiktaschen. Mir entgleitet die Herrschaft über meinen Kugelschreiber. Die Mutter kramt in ihrer Handtasche und gibt mir einen anderen Stift.

Vor dem Eingang drängt sich eine große Menge neuer Flüchtlinge. Zwei Polizeiwägen stehen auch da. Menschen kommen, Menschen gehen. Ein Dolmetscher sagt etwas zur Mutter und sie packt ihre Taschen. Das kleine Mädchen mit den kurzen Haaren winkt mir zu. Ab jetzt schreibe ich wieder allein. Schade irgendwie. Die Kleiderkammer ist gut sortiert. Mode habe ich immer unterschätzt und hatte mich bis jetzt nicht dafür interessiert. Die Frauen auf der Flucht habe mich dieses Gefühl der Lebensbejahung, eigentlich sogar der Überlebensbejahung, erstmals spüren lassen. Pragmatisch betrachtet, Man hat viel Zeit in so einer Flüchtlingsunterkunft und es gibt genug Auswahl. Eine der arabischen, blondierten Frauen etwas ist meine persönliche Queen der Intarsien-Pullover. Glitzern muss es, quasi scheppern. Die Augenbrauen aufgemalt wie bei Marlene Dietrich in den späteren Jahren. Die Farbe der Schuhe passend. Ganz anders die Eleganz der afghanischen Frauen. Die haben einen Style und einen Schick. Phänomenal. Eine junge Dame beobachte ich besonders gerne. Sie trägt einen olivgrünen Trainingsanzug die Hosenbeine leicht ausgestellt. Unter der Trainingsjacke ein grau schwarz changierendes Kapuzen-Shirt, die Schuhe sind von Puma und das Kopftuch ist triumphierend locker drapiert. Mehr Gaultier als Kleiderkammer. Vier Tänzerinnen an die Seite, ein Beat, ein Mikrophon und wir haben einen Welthit. Live recorded aus dem KURIER-Haus.

Hat schon jemals irgendwer vor mir den Gedanken gehabt, dass nur die Liebe zählt? Und dass sich eventuell einsame Milliardäre von Hochhäusern stürzen, aber niemals verliebte Pärchen? Es gibt einige, die haben noch rasch daheim geheiratet. Die Flucht war dann die Hochzeitsreise und jetzt sind sie da und haben überlebt. Was für ein Geschenk. Scheu sieht man sie manchmal Hand in Hand für kurze Strecken, aber sonst einfach in verliebtem Miteinander. So verliebt nach außen, wie es ihre Kultur zulässt. Mit dem Bräutigam habe ich mich mal kurz unterhalten. Der sitzt mitunter am Tisch der coolen Männer. Den gibt es übrigens in jedem Flüchtlingsquartier. Vergleichbar mit dem VIP-Tisch in einer Jugo-Disco. Nur ohne langbeinige Frauen, die ständig mit ihren Handys spielen. An diesem Tisch sitzen dann auch Afghanen, Syrer, Iraker und Afrikaner und versuchen sich zu verständigen. Ich habe mir auch schon überlegt, was mit mir wäre, müsste ich mal auf der Flucht sein. Jeder überlegt sich das, der jeden Tag seit Wochen zwischen diesen Menschen ist. Ich hoffe natürlich, dass sich die Frage nicht stellt, aber ich weiß, ich würde das überstehen. Weil, wenn ich meine Frau dabei habe und am Tisch der coolen Männer sitzen kann, dann ist die ganze Welt mein Zuhause.

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