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Alles über Kopftücher – Vor dem Arztzimmer – Meine Methode
2. Oktober 2015

Ich sehe Frauen mit Doppelkopftuch. Ich sehe Frauen mit diesem lässig um den Kopf drapierten Tuch und ich sehe Frauen, die ihre Haare offen tragen. Blond ist Trumpf. Marilyn Monroe und Doris Day haben sich durchgesetzt. Sogar der Scheitel stimmt und gefällt mir außerordentlich. Die blondierte arabische Frau trägt den Scheitel oft sehr tief. Quasi knapp über dem Ohr. Dann wird das Haupthaar schwungvoll über den Kopf in Form gebracht und mit ein paar Haarklammern gebändigt. Das Make-up hat ein Hauch von Existentialismus. Oder sonniger formuliert, irgendwie zwischen Jeanne Moreau und Simone Signoret. Mir gefällt das. Ich sitze in der Warteschlange zum hauseigenen Arzt. Nicht, weil mir was fehlt, sondern weil ich gerne sitze, wo ich nicht störe und trotzdem alles sehen kann. Meiner persönlichen Truman Capote Methode folgend, wirke ich dabei so neurotisch deplatziert, dass man sich denken muss, der passt so offensichtlich nicht hier her, der muss dazugehören. Es funktioniert jedenfalls.

Wahrscheinlich wäre ich auch nie aufgeflogen, wenn mein farbiger Nachbar mit dem Lodenmantel über dem Trainingsanzug nicht im letzten Moment gekniffen hätte. Und bevor ich dann am Ende noch eine Spritze bekomme, habe ich meinen Platz geräumt und bin in den Esssaal übersiedelt. Den Block hatte ich natürlich dabei. Das Abendessen wird dreimal serviert. Dann haben alle Bewohner genug Zeit zu sitzen und zu reden, bevor sie dann gebeten werden in die Zimmer zu gehen, damit der nächste Schwung kommen kann. Wie die Menschen den Saal betreten und zu den Tischen gehen ist ganz unterschiedlich. Manche schleichen, ermattet und müde von der schweren Zeit zur Essensausgabe. Ältere Ehepaare, die gemeinsam auf Flucht waren, haben oft eine Noblesse im Gang, man meint fast, sie wären Gäste am Kapitäns-Dinner. Ganz wunderbar und berührend anzusehen. Die Flüchtlinge unter den Flüchtlingen sind die wenige Schwarzafrikaner, man hat das Gefühl, sie wollten sich ständig entschuldigen, dass sie nicht aus Syrien oder dem Irak kommen. Dabei haben sie die Hölle daheim und die Hölle der Flucht hinter sich. Da gibt es nichts, wofür sie sich rechtfertigen müssen. Der Wille überleben zu wollen ist evolutionär in uns und wichtig. Da muss man sich nicht entschuldigen. Ohne diesen Willen gäbe es uns alle nicht. Wir wären einfach ausgestorben wie die Dinosaurier. Nur würde keiner Filme über uns drehen, oder unsere Knochen in Museen ausstellen, weil niemand da wäre.

Mir gegenüber hat eine Familie Platz genommen und reißt mich aus meinen Gedanken. Der Vater stellt sich um das Essen an. Die Mutter schaut sehr müde und sehr traurig aus. Sie hat den Kopf auf den Tisch gelegt. Die etwa zwölfjährige Tochter streichelt der Mutter unentwegt den Kopf. Tapferes Mädchen. Retour im Foyer. Zwei Afghanen und ein Araber warten auf den Doktor. Ich setze mich auf den vierten Stuhl. Mir gegenüber am Stiegenaufgang steht einer der zahlreichen, freiwilligen Helfer. Ein freundlicher Mann mit einer Engelsgeduld und dem schwierigen Job, den Bewohnern des Hauses zu vermitteln, dass Nahrungsmittel bitte im Speisesaal verzehrt werden müssen. Diese Engelsgeduld wird der freundliche Helfer auch gleich brauchen. Nur weiß er das zu dem Zeitpunkt noch nicht. Sein härtester Kontrahent ist vielleicht fünf Jahre alt. Er trägt einen langärmeligen Spiderman-Pullover, eine beige Schnürlsamthose und rutschsichere Noppensocken. Rosa, gelb und lila gestreift. Die benoppte Ferse ist grasgrün. In einer weißen Plastikschüssel balanciert der Junge stolz drei Bananen und zwei Äpfel und will hinauf zu den Schlafräumen. „Please eat here“, sagt der freundliche Helfer und wiederholt es dann nochmals ganz langsam. Der Junge versteht sichtlich kein Wort englisch und wiederholt seinen Satz auch nochmals langsam. Wer Orbans Zäune überwunden hat, lässt sich nicht so leicht entmutigen. „Pleeeeeaaaase – eeeeeat – heeeeeeeeere“. Englisch und Arabisch haben eines gemeinsam, wenn man es absolut nicht versteht, nutzt es dem Gegenüber nichts, wenn man jede Silbe extradeutlich und ausgedehnt betont. Inzwischen kommen weitere Kinder mit Obst. Mir tut der freundliche Mann schon fast leid. Wir sind mittlerweile in Minute Zehn dieses absurd süßen Schauspiels. Irgendwann muss der Helfer schnell weg und was dann passiert, dazu wird es von mir keine Aussage geben. Da mache ich den Meischberger und berufe mich auf Erinnerungslücken. Die Tür vom Arztzimmer öffnet sich wieder. Ich stehe auf und mache noch eine letzte Runde. Beim Ausgang sehe ich den freundlichen Helfer wieder. Ein verwirrter Schwarzafrikaner mit Obst in der Hand will hinauf in den dritten Stock. Ich packe mein gesamtes Schulfranzösisch aus und sage: „s`il vous plait manger en bas“. Er versteht mich. Meine Anwesenheit hat endlich praktischen Nutzen für die Gemeinschaft. Ich werde wieder kommen.

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